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Es ist, was es ist

Schauen wir in die Natur, finden wir eine große Einfachheit. Wäre uns das vollends bewusst, würden sich viele unserer Fragen und Mühen von selbst erledigen.

Im Kreis des Jahres sehen wir eigentlich alles, was wir wissen müssen.

Die Blüte bricht hervor, wenn es in der Knospe zu eng geworden ist. Sie reckt sich der Sonne entgegen und deren Wärme wiederum nährt die Frucht, die zu Boden fällt, sobald sie reif ist. Bald deckt der Schnee zu, was die Erde aufgenommen hat. Alles kehrt zu sich selbst zurück...um eines Tages erneut hervorzubrechen. Das ist die Weisheit der Natur. Nichts geschieht zufällig oder vor seiner Zeit. Alles hat Rhythmus und Sinn. Werden und Vergehen wechseln einander ab. Ja, sie bedingen sogar einander. Würde das Alte nicht gehen, könnte das Neue nicht kommen.

 

Die Natur denkt darüber nicht nach. Sie ereignet sich einfach. Hingegeben an sich selbst und an das Leben wird sie geboren und stirbt. Immer wieder. Mal ist das brutal und zerstörerisch, mal voll Zartheit und Wunder. Nichts daran ist tragisch oder umsonst. Auf den Tag folgt die Nacht, auf Sonne Regen und auf Ebbe folgt Flut. Ein Kommen und Gehen im Unendlichen.

Der Mensch mit seinem Leib und mit seiner Seele ist ebenfalls Teil dieser Natur. Doch er hat auch etwas, was ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet. Ein Bewusstsein. Und darin gefangen ist das 'Feld von Gedanken' in dem er mal mehr, mal weniger glücklich lebt. Mit wachsendem Willen unternimmt er von dort aus große Anstrengungen, um den Kreislauf des Lebens zu verändern. Er gefällt ihm so einfach nicht. Er hätte sich das irgendwie anders oder besser vorgestellt. Obwohl der Mensch eingebunden ist in etwas, das weit über ihn selbst hinaus geht, versucht er sich eine eigene, gedachte Welt zu erschaffen. Eine, die dem was ihn hervorbringt trotzt.

 

War man in den alten Mythen noch unterwegs, um das Kraut der Unsterblichkeit zu finden, zerstampfte man später das Horn wilder Tiere zu Pulver, um ewig jung zu bleiben. Man schnürte sich Füße klein oder zog sich den Schädel lang. Während es in manchen Nationen das höchste Glück war, ein hohes Lebensalter zu erreichen, gab es zeitgleich eine Kultur, die es romantisch fand, früh zu sterben. Es geht bunt zu hier auf der Erde. Der Kult um unsere Körper ist jedoch so alt wie die Menschheit selbst.

Nachdem wir vergessen hatten, woher wir kamen und wohin wir gehen, war der Körper unsere einzige Orientierung. Wir machten ihn zum Zentrum unseres Universums und manifestierten damit die Vorstellung: Das bin ich. Mein Körper bin ich.

Dass das was 'Ich bin' eines Tages nicht mehr da sein könnte, erfüllte uns mit Angst. Also versuchten wir, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.

 

Die Forschung in der Medizin ist uralt und ihr Segen ist unumstritten. Unglaubliches ist uns gelungen. Krankheiten können geheilt und Schmerzen können gelindert werden. Immer neue Forschungen erweitern unseren Horizont und hin und wieder werden wir Zeuge von Wundern. Dank all dieser Fortschritte leben wir nun in einer Gesellschaft, in der das durchschnittliche Lebensalter um einiges höher ist, als es noch im letzten Jahrhundert der Fall war.

Doch wie alles im Leben, hat auch dieser Fortschritt seinen Preis. In einem Wirtschaftssystem wie dem unseren, können viele alte Menschen nun nicht mehr ausreichend versorgt werden. Es mangelt nicht nur an Pflegekräften und Geld, sondern auch an Mitgefühl, Zeit und sozialer Kompetenz, unsere Alten in Würde zu betreuen.

Im Eifer des Lebens, dass die Jungen nach Mehr und Weiter und Höher streben lässt, bleibt für Menschlichkeit, Muße und Wärme nicht mehr viel Zeit.

In dieser Geschwindigkeit schien es zunächst, als würde uns die Technik wirklich zu Hilfe kommen. Sie sollte ersetzen, wozu Mensch nicht mehr zur Verfügung stand. Den Prozess des Alterns und Sterbens zu akzeptieren und zu begleiten. Und so kam es, dass wir es den Maschinen überließen, alte oder sterbenskranke Menschen am Leben zu halten. Und allzuoft haben wir dadurch ihr Leiden nur verlängert. Die Endlichkeit unseres Körpers erscheint uns bis heute unerträglich.

Als Preis fortschreitender Zivilisation bringen wir nun auch Krankheiten hervor, deren Heilmittel wir nicht mehr wissen. Dann entwickeln wir Medikamente, die so gravierende Nebenwirkungen haben, dass wiederum Medikamente entwickelt werden müssen, die diese Nebenwirkungen abfangen.

 

In diesem Jahrzehnt sehen wir uns nun einer ganz neuen, alten Tendenz gegenüber. Der Tendenz, das Leben zu perfektionieren und unter Kontrolle zu bringen. Indem wir unentwegt eingreifen. Erste Anzeichen dafür sind Ideen einer keimfreien Gesellschaft oder eine Neudefinition davon, was gesund und was krank ist. Man folgt der Vorstellung, ein Virus auf „Zero“ - also Null - stellen zu können und erstmalig spricht man auch von symptomfreien Erkrankungen. Atem und Berührung sind die Gefahrenquellen der Zukunft.

Zu den neuen Ideen gehört auch, dass alte Menschen nicht mehr sterben dürfen und Infektionskrankheiten nicht mehr zum Tode führen dürfen. Weil das manchen noch nicht so richtig einleuchtet, erstellt man am Computer Statistiken und Zahlenmodelle, die künftige Bedrohungen theoretisch errechnen. Auch wenn diese nicht eintreffen, sind sie dennoch Grund genug, ein neues Kraut der Unsterblichkeit zu mischen. Und dann zu verkaufen natürlich.

 

Es kommt, wie es kommen muss. Menschen sterben trotzdem. Ob an Viren und Bakterien, Mikroorganismen oder am Kraut der Unsterblichkeit. Sie erleiden Unfälle, schwere Verluste und tiefe Verzweiflung.

 

Und zur gleichen Zeit blühen Blumen am Wegesrand, singen Vögel ihr Morgenlied und werden Kinder geboren. Eben haben wir noch gelacht und brechen nun in Tränen aus.

Das Leben sieht über alles hinweg. Oder durch alles hindurch. Es ist vollkommen bei sich.

Raupen werden zu Schmetterlingen, Flüsse bahnen sich ihren Weg, Wellen werden zu Schaum im Sand. Ideen kommen und gehen, Kulturen entstehen und vergehen. Das Leben ist unbeeindruckt.

Was auch immer ich denke und will, wird verschwinden.

 

Auch dieser Körper und dieses Zeitalter werden verschwinden.

Aber ich werde übrigbleiben, als das Leben.

 

Das ich bin.

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Kommentare: 3
  • #1

    Monika (Sonntag, 13 Februar 2022 10:24)

    Eine sehr gute Erinnerung über den Kreislauf des Lebens und die teilweise sinnlosen Aktionen der Menschen...danke

  • #2

    Heinz (Sonntag, 13 Februar 2022 11:46)

    Wunderbarer Text. Dankeschön.

  • #3

    Miriam (Sonntag, 13 Februar 2022 11:46)

    Wow, perfekt und wunderschön ausgedrückt und zusammengefasst! Wendet man den Blick von all dem Wahnsinn ab und beschaut die Blumen am Wegesrand, sieht man auf einmal das Vergängliche in all seiner Schönheit.
    Da bin ich doch lieber ein Butterblümchen auf einer Wiese mit vielen anderen bunten Blumen, als ein Unsterblichkeitskraut �