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Der Diamant in der Westentasche

Es begab sich eine Zeit, in der eine große Verwirrung auf Erden herrschte. Die Menschen konnten den Stand der Sonne nicht mehr lesen und die Kompassnadeln schienen sich jeden Tag in eine neue Richtung zu drehen. Manchmal standen sie sogar auf dem Kopf. Norden, Süden, Westen und Osten gerieten völlig durcheinander, ebenso wie die Farben des Regenbogens.

Erst fiel es den Menschen gar nicht auf. Sie blickten einfach nur seltener in den Himmel. Sie sahen die Sterne nicht und nicht den Lauf der Gestirne. Die Wolken die sie kannten, waren längst abgelöst von langen Streifen und Vorhängen dichter Schwaden und langsam begannen sie zu vergessen, wie es auf der Erde einst war. Nicht nur das: sie vergaßen auch, wer sie selbst waren. Mit gesenktem Kopf schauten sie auf Bildschirme, aus denen die buntesten Geschichten herausquollen. Worte und Bilder in großer Zahl. Viele Stunden am Tag verbrachten sie damit, in der Bildschirmwelt spazieren zu gehen. Auch während sie aßen, sich mit anderen trafen oder durch einen Wald liefen. Manchmal stolperten sie übereinander, liefen gegen einen Baum oder wussten nicht mehr, wo sie gerade waren.

 

Und immer wenn sich ein leises Gefühl des Unwohlseins meldete, griffen sie zu ihrem kleinen Bildschirm, um sich zu beruhigen. Alles was sie sahen oder sich erzählen wollten, schickten sie durch die Linse ihrer kleinen Geräte und sendeten es zu anderen mit den kleinen Geräten. Dass sie den Wald nicht mehr riechen konnten, den Wind nicht mehr rauschen hörten und die Süße des Lebens nicht mehr schmecken konnten, fiel ihnen lange nicht auf.

Das Leben im Bildschirm war einfach leichter und schneller.

Es gab immer jemanden, der den Menschen erklärte was richtig ist und aus welcher Richtung der passende Wind weht. So fingen sie an zu glauben, dass es gute Kriege gab, dass Gesundheit aus dem Chemielabor kommt und dass Identität etwas mit Vorlieben zu tun hat. Oder mit Religion oder Meinung. Wie ein Wetterfähnchen drehten sie sich um ihre eigene Achse und zeigten in die empfohlene Richtung.

 

Und als der Polarstern völlig verhangen war von den vielen Gedankenwolken und ihnen ganz schwindlig war von der Wetterdreherei, fragte einer plötzlich ganz laut: „ Wo ist eigentlich Norden?“ Alle schauten nach oben. Der Polarstern war weg. Sie schauten nach links, nach rechts, nach vorn, nach hinten…..und waren sich einfach nicht sicher! Die, die noch einen Kompass hatten, kramten ihn aus der Tasche und hielten ihn hierhin und dorthin. Die Nadel tanzte einen irren Tanz. Drehte sich, blieb stehen, hüpfte weiter. Selbst nach einer Stunde konnte sie sich nicht festlegen, wo Norden war. Manche Menschen wurden nun bleich und ließen die Arme sinken. Andere liefen los in eine Richtung, kehrten um und liefen dann in eine andere. Es entstand ein großes Durcheinander und je länger die Menschen suchend hin und her liefen und sich zu erinnern versuchten wo der Norden war, um so mehr stieg Panik in ihnen auf. „Wir müssen den Lauf der Sonne beobachten!“ fiel jemandem ein. Es war einer von den Alten. „Die Sonne ist viel zu gefährlich, das weiß doch jeder.“ rief ein anderer. Es war einer von den Jungen. Manche suchten nun zumindest aus den Augenwinkeln den Himmel nach dem leuchtenden Ball ab, aber es war nichts zu sehen. Das Himmelsgewölbe war in diffuse, graublaue Schleier getaucht, alles in der selben Farbe. Fieberhaft griffen die Menschen zu ihren kleinen Bildschirmen und gaben dort die Frage ein: „Wo ist Norden?“. Überall kam die selbe Antwort: „Heute hier, morgen dort. Ganz wie wir wollen.“ Das stand da schon seit Jahren.

Die Menschen zuckten mit den Schultern. Manche senkten wieder ihren Kopf und schauten einfach weiter nach bunten Filmchen auf ihrem Bildschirm und bald schon hatten sie die Frage nach dem Norden wieder vergessen. Andere bildeten kleine Gruppen und erzählten sich: „ Wir brauchen den Norden nicht zu suchen, er ist ja bereits in uns.“ Sie klatschten sich dabei lachend auf die Schenkel und fühlten sich richtig gut eingenordet. Doch auch ihr Himmel blieb weiter verhangen und sie drehten sich unverändert wie Wetterfähnchen im Wind. Mal waren die Geschichten, die sie sich erzählten fröhlich, am nächsten Tag waren sie wieder traurig. Sie benutzten schöne Wörter, manchmal auch dramatische und sie schmückten ihre Erzählungen immer wieder mit dem Wort „Norden“. Die meisten von ihnen gaben sich schon bald damit zufrieden und dachten, dass er sehr wahrscheinlich schon längst in ihnen vorhanden war. Am Ende, so hieß es, sei es keine große Sache, ihn zu finden.

 

So vergingen viele, viele Jahre ….und der Wind wehte weiter über das Land….

Der Polarstern strahlte unbeirrt sein schönstes nordisches Licht hinter dem Wolkenzelt, das über die Erde gespannt war. Und nur wenige schienen sich noch an sein Leuchten zu erinnern. Nur hier und da tauchte es wie ein kleines Ziehen im Herzen eines Menschen auf, wie eine leise, ungestillte Sehnsucht.

Wenn das geschah und einfach nicht weg gehen wollte, machte ein solcher Mensch sich manchmal auf, den Norden wirklich zu finden. Er ließ den Menschenkompass zurück und auch den kleinen Bildschirm und all die Geschichten, die er vom Nordlicht gehört hatte. In der Westentasche hatte er einen unscheinbaren Stein, der vor langer, langer Zeit von den Sternen auf die Erde gefallen war. Es war, als ob er den Weg wusste. Durch Wüsten, Stürme und Unwetter, durch Oasen und karges Land. Und je länger der Mensch mit dem Stein ging, desto mehr fing dieser an sich zu verändern. Seine rauen Stellen schliffen sich und nahmen nach und nach eine ebenmäßige, klare Form an. Und nach einigen Jahren, keiner weiß mehr genau, wie lange solch ein Mensch unterwegs war, fand er in seiner Westentasche einen wunderschön geschliffenen Diamanten. Wenn er ihn dann voller Freude hoch zum Himmel hob, um ihn genauer zu betrachten, konnte es geschehen, dass sich die dichte Wolkendecke um die Erde auftat und der Stern des Nordens sein unaussprechliches Licht zeigte. Alle Facetten des Diamanten begannen dann auf dieses Licht zu antworten. Nach und nach umhüllte das Licht sogar den Menschen und füllte ihn bald vollständig aus.

Wenn der Segen es wollte, verschmolzen das Licht des Nordens, der Diamant und der Mensch in dieser Sekunde miteinander...und zerbarsten in Milliarden Funken aus Licht.

 

Nach Jahrtausenden oder in diesem Augenblick, fallen diese Funken zurück zur Erde. Als kleine unscheinbare Steine in die Westentaschen von Menschen. Die sich dann aufmachen, den Norden zu suchen.

 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Miriam (Donnerstag, 06 Juni 2024 19:52)

    Ein wunderschön geschriebener Text, liebe Frauke �
    Auf nach Norden!