Manchmal schauen wir auf unser Leben und begreifen nicht. Wir kennen unsere Wünsche, Sehnsüchte und Vorstellungen. Wir kennen unsere Erfolge und unser Scheitern. Unser Suchen und Bemühen, unser Finden und Verlieren. Wir sehen unsere Handlungen. Aber wir verstehen nicht.
Einige unserer Träume erfüllen sich, andere nicht. Mancher Same, der unbeachtet am Wegesrand lag, geht plötzlich auf und bringt große Freude und ein ganzes Feld, das wir jahrelang hegten und pflegten, verdorrt vor unseren Augen.
Entwicklungen beginnen zu stocken und was vielversprechend begann, verläuft im Sande. Nur um andernorts unverhofft wieder aufzuerstehen.
Vielleicht beginnen wir Vermutungen anzustellen oder zu forschen, warum das so ist. Dabei mag manche Theorie oder Heilungsversuch unseren Weg kreuzen. Einige der Schlüsse, die wir ziehen, ergeben einen Moment lang Sinn. Wir lassen nichts unversucht, das was schon nicht zu ändern ist, wenigstens zu verstehen.
Doch wir übersehen etwas Wesentliches. Ein Geflecht unzähliger Erfahrungen prägt unser Handeln und Empfinden. Auch das, was zu uns kommt oder fernbleibt. Es ist aus unseren gesamten Leben gewoben, nicht nur aus diesem. Einiges, was wir vielleicht in vergangenen Leben nicht gemeistert haben, möchten wir in diesem Leben nicht wiederholen. Manche Beweggründe sind uns dabei sicher verborgen. Andere wiederum ahnen oder wissen wir.
Die Lebensform die wir wählen, die Beziehungen die wir haben, die Berufe die wir aussuchen, haben einen Sinn. Jede einzelne Begegnung mit anderen Menschen, die Geschenke, die wir geben oder erhalten, das Leid und das Glück, das wir erfahren – all das hat Sinn. Nicht nur für uns selbst, sondern auch aus einer viel umfassenderen Sicht.
Zwar meinen wir oft, wir würden diesen Sinn kennen oder ahnen oder irgendetwas verstehen. Meist dauert es jedoch ein paar Lebensjahrzehnte, bis wir einsehen und erkennen, das dem nicht so ist. Wir sehen immer nur winzige Ausschnitte dessen, was durch uns lebt und liebt.
So ist es auch, wenn wir in das Leben eines anderen blicken. Wir erfassen es nicht.
Vielleicht versuchen wir in langen Gesprächen einander zu erklären. Die Art, wie wir aufgewachsen sind, unsere Geschichte, unsere Prägungen, unsere Seelenerfahrungen und Erlebnisse....Und hier und da blitzt ein „Aha!“ in den Augen des anderen auf oder ein stilles Erkennen im eigenen Herzen.
Kostbare Momente der Nähe sind das – zu sich selbst und zum andern.
Kleine Spots von Licht, das auf etwas fällt. Winzige Ausschnitte eines überdimensionalen Bildes, das in seiner Gänze unserem menschlichen Auge verborgen bleibt.
Es gibt ein wunderschönes Zitat von Vicky Wall, der Begründerin von Aura Soma, das mich schon immer sehr berührt hat. Sie sagte es im Zusammenhang mit ihrem Lebenswerk. Doch ich finde, es ist eine Haltung, die wir immer einnehmen können, wenn wir auf ein Leben schauen. Sei es unser eigenes oder das eines anderen:
„Seid behutsam, meine Freunde. Denn ihr betretet das Gewebe meines Lebens.“
Für mich ist es ein Gewebe aus den feinen Fäden des Schicksals, gewoben zwischen Himmel und Erde. Unser Lebens-und Seelengeflecht ist sehr vielschichtig und in gewisser Weise erscheint es mir „heilig“. Weil es unsere ganze Geschichte ist, nicht nur die jetzt erkennbare. Ein Gewebe jenseits und tiefer, als das Sichtbare in der Zeit. Ich glaube, niemand wird plötzlich „erleuchtet“, ohne einen jahrtausende langen Weg gegangen zu sein und niemand stirbt „vor seiner Zeit“. Aus unserer Seelengeschichte entstehen all unsere Entscheidungen und Erfahrungen, unsere innere Führung, unsere Intuition, was wir uns wünschen, was wir tun sollten und was lieber nicht. Deshalb habe ich großen Respekt davor. Nicht nur vor dem Seelen-Gewebe eines anderen Menschen, sondern auch vor meinem eigenen. Wenn wir mit unseren Menschenaugen darauf schauen, sehen wir immer nur Ausschnitte und ziehen unsere Schlüsse daraus. Doch mit etwas Ehrfurcht und Respekt müssen wir sagen: Wir wissen nicht, warum wir selbst oder ein anderer Mensch will, was er will, warum er tut, was er tut und warum er dieses und nicht etwas anderes erfährt. Die Geschichte ist größer...
Wann immer wir glauben, wir wüssten was besser für uns wäre oder wie jemand leben müsste, können wir innehalten. Wann immer wir urteilen über unseren eigenen Weg oder den eines anderen, verfehlen wir die Weisheit des Weges, verfehlen wir die Liebe, verfehlen wir das Ganze.
Die Zeit webt ihre Fäden und manchmal scheint es, als könnten wir sie sehen. Die Muster der Wiederkehr, das Kreisen um den selben Punkt, das freie Schweben und das Einhaken. Und gerade, wenn wir uns besonders sicher sind, etwas zu sehen, schickt Gott uns die Nacht.
Wenn die letzten Straßenlaternen ihr Licht gelöscht haben und die Welt ihr tiefstes Schweigen schweigt, sind alle Fäden verschwunden. Die Rastlosigkeit und der Versuch irgendetwas zu verstehen haben ihre Hände in deinen Schoß gelegt, um endlich auszuruh'n.
Deine Augen wenden sich dir selbst zu.
In diesem Dunkel kannst du nichts sehen. Weder was hinter dir liegt, noch was kommen mag. Es ist, als hätte alle Bewegung angehalten, um zurückzukehren, woher sie kam.
Kein Vorwärtsgehen, kein Wissen, kein Verstehen. Kein Gestalten. Kein Sehen. Kein Halten. Kein Versprechen. Kein Werden. Auch keine Stille.
Einen Moment lang bist du Zuhause.
Vielleicht auch jenseits von Schicksal.
Doch bald schon kommt ein neuer Tag und du versuchst dich zu erinnern.
Es wird nicht gelingen.
Denn Nichts kann umfassen, was nicht zu umfassen ist.

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Moni (Montag, 27 Oktober 2025 09:18)
Ein wunderschöner Beitrag liebe Frauke , zum Nachdenken angeregt über das Leben und das Seelengeflecht mit einem so passenden Bild.....danke
Ulrike (Montag, 27 Oktober 2025 12:25)
Sehr schön geschrieben, liebe Frauke. Passend zur Jahreszeit, inspirierend und zum Nachdenken. Der Text hat mich wieder mal sehr berührt.
Vielen herzlichen Dank ❤️
Nicole (Montag, 27 Oktober 2025 15:06)
Wunderbar,liebe Frauke.Dein Text hat eingeladen innezuhalten und tiefer zu blicken ,inmitten des Alltags.
Danke und viele liebe Grüße ���