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Die innere Tafelrunde - Die Kunst, unsere Wesensanteile an einen Tisch zu setzen

Jede Person ist einzigartig, sagt man so landläufig. Das mag stimmen. Doch wie genau kennen wir uns? Und agieren da nicht manchmal Wesensanteile in uns, die wir noch gar nicht kennen, die sich widersprechen oder sich gegenseitig lahmlegen? Bringt diese Vielfalt uns nicht manchmal in Bedrängnis? Und können wir über die Aspekte unserer Persönlichkeit hinauswachsen?

Egal, welchen Weg man geht, ob man eine spirituelle oder materialistische Grundhaltung hat – die Erfahrungen unseres Lebens sind nicht immer leicht zu bewältigen, geschweige denn zu verstehen.

Ich halte es für heilsam, sich gut zu kennen und die eigenen Strukturen und Reaktionen mal etwas näher zu beleuchten. Denn das was wirklich erlebt, gesehen und erkannt ist, verändert unser Dasein. Sei es auf dem Pfad der Selbsterkenntnis oder einfach in der Bewältigung unseres Alltags.

 

Verschiedene Systeme ergänzen sich

Nun gibt es ja viele Möglichkeiten, die Strukturen unserer Psyche näher zu betrachten. In der klassischen Temperamentenlehre zum Beispiel geht man von vier verschiedenen Grundtypen aus. Sanguiniker, Melancholiker, Choleriker und Phlegmatiker. Diese vier Typen legen die jeweilige Tendenz des Menschen dar, aus der heraus er am ehesten geneigt ist, auf die Gegebenheiten des Lebens zu reagieren. In der Astrologie werden die menschlichen Charaktere in zwölf Sternzeichen dargestellt. Im Ayurveda gibt es die Doshas Kapha, Pitta und Vata. Aus der chinesischen Elementenlehre kennt man die Dynamiken Holz, Metall, Feuer, Erde und Wasser. Im Enneagramm spricht man von neun verschiedenen Persönlichkeitstypen.

All das sind wunderbare Systeme, die die Vielfalt der menschlichen Energien beschreiben und helfen, innere Vorgänge besser zu verstehen. Sie greifen ineinander, zeigen Entsprechungen und ergänzen sich.

 

Die innere Tafelrunde

Heute möchte ich Dir nun ein weiteres, gut praktikables System vorstellen.

Das System der 'Inneren Tafelrunde', dem ich in meiner Ausbildung zur Homöopathin in der Prozessorientierten Homöopathie begegnet bin.

Anders als in der klassischen Homöopathie geht man hier nicht von einer einzigen, 'typischen' und grundlegenden Konstitution des Menschen aus. Man betrachtet vielmehr die Tatsache, dass wir Menschen durchaus verschiedene innere Aspekte haben, die sich auch widersprechen oder in bestimmten Lebensphasen einander abwechseln können. Setzt man diese verschiedenen Aspekte alle an einen Tisch – den 'Tisch' der Persönlichkeit – so entsteht das Bild einer inneren Tafelrunde. Ähnlich der Runde, die sich damals um König Artus versammelt hat.

 

Da mag es zum Beispiel den Ungestümen geben, die Trauernde, die Ängstliche, den Romantiker, den Besserwisser, den Forscher, den Springinsfeld, die innere Mutter, den Richter, den Revoluzzer, den Dieb oder die Hure...was auch immer. Sie alle stehen für verschiedene Aspekte ein und derselben Person. Und zu unterschiedlichen Zeitpunkten unseres Lebens verschaffen sich diese Aspekte Gehör. Sie melden sich zu Wort. In bestimmten Situationen können sich diese Aspekte unterstützen und zur Seite stehen, in anderen sich regelrecht behindern oder handlungsunfähig machen.

 

Sie zu ignorieren oder zu 'erziehen' macht keinen Sinn, denn es sind lebendige Dynamiken in uns selbst, die durchaus ihre Berechtigung haben. Und zwar jede zu ihrer Zeit. Den inneren Richter braucht es zum Beispiel, um eine Situation gut abzuwägen und einschätzen zu können, um dann ein klares Urteil zu fällen. Den Ungestümen braucht es vielleicht, um in einer brenzligen Situation direkt zur Tat zu schreiten. Und die Hure möglicherweise, um innere Konventionen zu durchbrechen und den Kopf auszuschalten.

 

In Aktion

Schwierig wird es, wenn eben jene inneren Aspekte sich gegenseitig reinreden, verbessern oder beeinflussen wollen. Richter und Hure zum Beispiel sind da oft kein harmonisches Team. Der Chaot und der Kontrolleur auch nicht. Doch schauen wir uns das mal genauer an.

Wenn ein Mensch sich beispielsweise verliebt, wird in den meisten Fällen der innere Romantiker aktiv. Er fängt an zu schwärmen, malt die Welt in den tollsten Farben und schwebt auf Wolke sieben. Unbeeindruckt von der allgemeinen Wetterlage, dem Dax-Index oder der körperlichen Konstitution. Alles ist wundervoll und wird von einem Zauber verklärt, der tatsächlich auch eine große Kraft entwickeln kann.

Erscheint in einem unbewussten Moment nun der Kritiker auf der Bildfläche, kann es zu unschönen inneren Diskussionen kommen. „ Das sind alles nur biochemische Prozesse.“ „ Du machst dir was vor.“ „ Bist du dir sicher, dass du das wirklich willst?“ „ Dieser Mensch passt überhaupt nicht zu dir.“ … und andere Sticheleien drohen den Romantiker von seiner Wolke zu holen. Und je mehr der Romantiker die Stimme des Kritikers zu ignorieren versucht, umso gehässiger und zäher werden seine Einwürfe.

 

Der Romantiker in uns ist nun zusehends verunsichert. Zweifel machen sich breit, der kritische Blick schleicht sich ein und unser Top-Manager, der Verstand, lacht sich ins Fäustchen – weil er endlich wieder alle Hände voll zu tun hat! Er muss nachdenken, hinterfragen, 'Wenn's und Aber's' jonglieren. Er muss nachts um halb drei Probleme wälzen und Argumente von links nach rechts schieben, um zwei Stunden später wieder alles zu verwerfen und von neuem abzuwägen....

Nicht nur, dass es uns den Schlaf und das innere Gleichgewicht raubt, es lässt uns wie der Esel der Möhre hinterher rennen. Angetrieben, hungrig, hoffend. Aber wir werden niemals von ihr satt. Weil wir selbst diejenigen sind, die sie in immer gleichem Gedankenabstand vor uns her tragen.

Über kurz oder lang machen wir also die Erfahrung, dass weder ignorieren, noch diskutieren hilft. Was wir nicht wollen, wird lauter. Was wir wegschieben, nimmt sich erst recht Raum. Und was wir zer-denken, spaltet uns vom direkten Erleben ab.

 

Den inneren Kampf lösen

In der Prozessorientierten Homöopathie, die ja eine Heilmethode ist, geht es bei der Betrachtung der inneren Tafelrunde erst mal darum, unsere verschiedenen Wesensanteile zu sehen und anzuerkennen. In der Behandlung dann, bekommt jeder Anteil zu gegebener Zeit - nämlich dann, wenn er aktiv wird und unter Umständen mit den anderen Anteilen im Klinsch liegt - seine angemessene Aufmerksamkeit und gezielte homöopathische Heilimpulse.

 

Hier möchte ich aber nicht so sehr auf die Heilmethode der Homöopathie eingehen, sondern das Bild der inneren Tafelrunde als einen Impuls mitnehmen, der ein besseres Verständnis unserer inneren Vorgänge und vor allem einen heilsamen Umgang damit zur Folge hat. Mehr im alltäglichen Sinne – nämlich dann, wenn die inneren Dialoge auftauchen und zu Blockaden und gedanklichen Endlosschleifen führen.

 

Eines noch vorweg: Es geht hier nicht etwa um multiple Persönlichkeiten oder gar die Identifikation mit einzelnen inneren Anteilen. Denn alle bilden letztlich immer ein Ganzes, ein Zusammenspiel, eine unverwechselbare Einheit. Bei der hier vorgestellten Methode geht es vielmehr darum, an Kenntnis, innerer Beobachtungsgabe und Gelassenheit zu gewinnen, wenn sich verschiedene Wesensanteile zeigen, die wir Menschen übrigens alle haben. Nur in unterschiedlicher Zusammensetzung und Ausprägung. Die innere Tafelrunde ist einfach ein hilfreiches Bild, um bestimmte Vorgänge zu verstehen.

 

Um unsere menschlichen Dynamiken hier deutlicher zu machen, habe ich nun ein paar kleine Tipps zusammengestellt. Es ist meiner praktischen Erfahrung nach hilfreich, sie wirklich auszuprobieren.

 

Gestalt geben

Im ersten Schritt empfiehlt es sich zunächst, den einzelnen Wesensanteilen, wenn sie sich (wie alte Bekannte) zu Wort melden, konkrete Namen zu geben. Das können Vor – oder Nachnamen sein oder Berufsbezeichnungen oder spezielle Charaktere. Zum Beispiel Frau Müller-Lüdenscheidt, Oma Elsbeth, Horst, die Gouvernante oder der Schüchterne. Welche Namen und Charakterbeschreibung Du wählst, ist völlig Deiner Phantasie überlassen. Aber der Name sollte gut zu der Eigenschaft passen, mit der dieser Anteil sich immer wieder zeigt. Er kann durchaus etwas Wertschätzendes oder ein wohlwollendes Augenzwinkern haben. Humor ist hier erlaubt und ein probates Mittel, um die inneren Aspekte wirklich in Aktion zu sehen.

 

Im nächsten Schritt kannst Du, falls Du gut und gern bildlich denkst, den jeweiligen Charakteren auch eine passende Gestalt geben oder passende Kleidung 'anziehen'. Frau Müller-Lüdenscheidt hat dann vielleicht eine halbe Lesebrille auf der Nase und schmale Lippen, Horst hat ein Holzfällerhemd an und die Gouvernante steht in hochgeschlossenem steifen Kragen und bodenlangem, schwarzen Kleid vor Deinem inneren Auge. Der innere Richter hebt bedrohlich den Hammer, der Romantiker hat fein gewelltes Haar und eine Blume im Knopfloch. Was auch immer Dir gefällt und spontan als inneres Bild zu diesem Charakter einfällt, ist genau richtig! Es gibt kein Tabu.

 

Zur Sprache finden

Dann stellst Du Dir vor, wie Du diesen speziellen Wesensanteil zum Gespräch einlädst. Und zwar genau den, der Dich gerade piesackt! Du setzt Dich mit ihm an einen Tisch und bittest ihn, mal frei von der Leber weg zu erzählen, was ihn so bewegt. Du, als die weise und bewusste Instanz – in der Tafelrunde könnten wir sie König Artus nennen – hörst einfach nur zu. Du gibst keinen Kommentar, wehrst nichts ab und befeuerst nichts. Der 'aufmüpfige' Anteil in Dir hat jetzt freie Sprechzeit. Es wäre gut, wenn Du bei dieser Übung alleine im Raum bist, dann kannst Du die Argumente der jeweiligen inneren Person ruhig laut aussprechen. Was auch immer jetzt kommt, moralische Abhandlungen, Wutausbrüche, bittere Klagen, ängstliche Zweifel, abgehobene Ideen.... Du hörst es Dir an. Es wird etwas Erstaunliches passieren. Du wirst verwundert wahrnehmen, was diese eine innere Person den lieben langen Tag so denkt. So detailliert wusstest Du das vorher gar nicht! Denn bis zu dem Zeitpunkt, an dem Du ihr jetzt mal Gehör geschenkt hast, hat sie das im Stillen in Deinen Geist gemurmelt. Wie ein dauernder Kommentator der unangenehme, aber eben auch nicht zu ignorierende Nebengeräusche macht. Es kostet viel Kraft, das ständig überhören zu wollen. Diese innere Person ist Teil Deiner Geschichte, Deiner angenommenen Glaubenssätze, Deiner abgespeicherten und zum großen Teil auch unbewältigten Erfahrungen. Sie bildet eine Instanz in Dir, die nicht einfach verschwindet, wenn Du sie verscheuchst oder ignorierst. Sie will gesehen, sie will gehört werden. Und auch gefühlt werden. Ganz erstaunlich einfach.

 

Wohin es führt

Und in dem Moment, wo Du diese innere Person mal endlich – und bei gegebenem Anlass auch immer wieder – zu Wort kommen lässt, entspannt sie sich. Vielleicht nicht gleich, aber nach einer Weile sicher. Sie schrumpft auf eine menschliche Größe zusammen, der wir begegnen und die wir sein lassen können. So, wie sie ist. Wir müssen sie nicht mehr fürchten, bekämpfen oder reglementieren. Und vor allem müssen wir uns nicht mehr mit ihr identifizieren. Sie ist einfach ein Aspekt unserer Persönlichkeit, nicht etwa das, was wir in Wahrheit sind. Und zwar jenseits aller Aspekte, Meinungen und inneren Kommentatoren. Doch das findet man vielleicht erst mit der Zeit heraus. Bis es soweit ist, ist uns die offene Betrachtung unserer inneren Anteile aber durchaus von Nutzen.

 

Manche innere Persönlichkeitsanteile lernen wir auch erst später im Laufe unseres Lebens kennen. Das können echte Überraschungen sein, im angenehmen und unangenehmen Sinn. Sie werden uns nur nach und nach bewusst oder entfalten sich erst mit einer gewissen Reife. Und es ist auch so, dass nicht alle unsere Anteile immer gleichzeitig an einem Tisch sitzen und diskutieren, sich befeuern oder bekämpfen. Manche sind sich auch 'gut Freund', stärken sich gegenseitig, fristen ein gelassenes Dasein im Innern oder haben gerade nichts zu sagen.

 

Wenn einer Deiner inneren Anteile sich nun aber zu einem Zeitpunkt zu Wort meldet, wo Du gerade kein Ohr für ihn hast, ist es durchaus legitim, sich einen 'Termin' mit ihm zu vereinbaren. Zum Beispiel:  „ Heute Abend habe ich Zeit für dich. Dann höre ich dir aufmerksam zu.“ Das solltest Du dann natürlich auch tun.

Die goldene Regel in dieser Übung ist, sich nicht auf eine Diskussion einzulassen und Argumente auszutauschen, die für oder gegen eine Sache oder Wahrnehmung sprechen. Einfach nur zuhören! Das ist das Lösungsmittel. Hinschauen, hinhören, offen sein, nichts dagegen haben und nichts dafür. In Gelassenheit und sinnbildlich mit den Händen im Schoß.

Auf diese Weise lernt unser Geist etwas Heilsames kennen. Die neutrale Instanz des inneren Beobachters. Und erst diese Instanz macht es möglich, eine ganz andere Perspektive im Blick auf sich selbst und auf das Leben einzunehmen.

 

Echte Autorität

Um nun auch abschließend beim Bild der inneren Tafelrunde zu bleiben:

Wenn der König Artus in einer Sache alle Berater, Bedenken und Überlegungen gehört hat, die an seiner Tafelrunde sitzen - wenn er ihnen weder den Mund verboten, noch sie belobigt oder abgestraft hat - wächst ein tieferes Bewusstsein in ihm. Für alle Aspekte seines Seins. Ein vereinendes, umfassenderes Bewusstsein. Eines, das über seinen bisherigen Horizont hinausgeht. So kann er seiner eigentlichen und heiligen Aufgabe gerecht werden und Entscheidungen fällen, die lebendig und weise sind. Liebevoll und klar aus der Mitte seines Herzens. Er ist zu einer echten Autorität in seinem inneren Königreich geworden.

 

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