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Ich mag schwarze Schafe

Im Kampf gegen die Unbilden der Natur hat sich vor hunderttausenden von Jahren in langwährenden Prozessen aus der Horde die Daseinsform der Sippe entwickelt. Und ob wir es wissen oder nicht: Bis heute sind wir geprägt und geleitet von Instinkten aus dieser Zeit. Die Zugehörigkeit zu einer Sippe ergab sich aus befreundeten Beziehungen untereinander, Verwandtschaftsverhältnissen, Erfordernissen der Nahrungsbeschaffung und der Notwendigkeit einer Aufgabenteilung und Organisation. Man übernahm Verantwortung für 'Seinesgleichen' und in dieser Gemeinschaft waren Schutz und Nahrung gesichert.

Dazugehören, mittun, füreinander sorgen, sich einfügen und anpassen ist also ein uraltes Überlebenssystem. Und damals wie heute gilt: wer aus dem Rahmen fällt, riskiert ausgestoßen und isoliert zu werden. In den archaischen Teilen unseres Gehirns bedeutet Andersartigkeit immer noch Ausschluss aus der Sippe. Und vor noch nicht allzu langer Zeit unserer Menschheitsgeschichte kam das tatsächlich einem Todesurteil gleich.

 

Selbst wenn klar ist, dass wir heute nicht mehr sterben müssen, wenn wir anders sind, lassen sich solch tief geprägten Überlebensinstinkte nicht willentlich ausschalten. Auch wenn sie ihre Sinnhaftigkeit verloren haben, lassen sich alte Instinkte nicht plötzlich, sondern nur Stück für Stück verändern. Das ist Teil unserer Evolution.

Bewahren und Erneuern stehen sich da nicht selten gegenüber und scheinen einander sogar auszuschließen. Doch ist das wirklich so? Oder bedingt eines das andere?

 

Zunächst einmal können wir sagen, dass gesellschaftliche Übereinkünfte viele Gesichter haben und bis zu einem gewissen Grad durchaus sinnvoll sind. Da wäre zum Beispiel das Bedürfnis, einander äußerlich zu ähneln. In Frisur, Kleidung und modischen Trends. In bestimmten Lebensaltern und Kulturen ist das sehr ausgeprägt. Dann wäre da noch die Zugehörigkeit über Interessen, Musik-und Kunstgeschmack, Hobbys und Freizeitaktivitäten. Oder der Gemeinschaftssinn, der einer geltenden Moral, einem religiösen Weltbild oder einer politischen Gesinnung entspringt. Bildungsstand, Ethnie, gesellschaftlicher Status und Vermögen bilden auch ein spezielles Wir und die Anderen. Eine Sippe schließt Zugehörige (Verwandte) ein und andere aus. Das ist zunächst einmal kein böswilliges Tun, sondern vielmehr eine Frage von Orientierung und Identität.

 

 

Welche Aufgabe kommt denn nun aber den schwarzen Schafen in Familie und Gesellschaft zu? Wie kommt es, dass sie so auffallend anders sind?

 

Genau genommen kennen wir sie alle – oder sind es gar selber: Die, die immer aus der Rolle fallen. In einer Familie von Akademikern, sind es die, die nur mit viel Schubkraft den Hauptschulabschluss schaffen. In streng religiösen Verbünden sind es die Homosexuellen, in moralisch integeren Familien die Kriminellen, in ehrgeizigen Familien die Süchtigen und in traditionsgebundenen Familien die Aussteiger, die das bisher so gut gesicherte System erschüttern. In Haushalten, wo hochgeschnürte Krawatten und steif gebügelte Blusen die Norm sind, sehen Eltern ihre Kinder als Hippies mit Schlabberhosen und Blumenketten vor sich sitzen. Sportbegeisterte bekommen übergewichtige Kinder, Pädagogenfamilien Kinder mit Verhaltensstörungen. Lange Berufstraditionen werden unterbrochen, es wird nicht standesgemäß geheiratet, Ausbildungen werden abgebrochen und sanftmütige Eltern werden mit aggressiven Kindern konfrontiert.

Wenn ein Kind in das System einer Familie geboren wird, unabhängig davon ob Geschwister da sind oder nicht, sucht es sich unbewusst den Anteil in der Familie aus, der noch nicht besetzt ist. Jedes System ist auf Ausgleich bedacht. Wo viel Festigkeit ist, da braucht es Weichheit, wo viel Moral ist, braucht es den, der sie aufbricht...undsoweiter.

 

Wir sind jetzt schon in der achten Generation Schuhmacher.“ „ In unserer Familie ist es üblich, dass drei Generationen in einem Haus wohnen:“ „Geht nicht, gibt’s bei uns nicht.“ Wenn solche und ähnliche Sätze in einer Familie fest etabliert sind, werden naturgemäß schwarze Schafe geboren. Sie brechen mit der Tradition und stellen den allgemeinen Konsens in Frage.

 

Das sogenannte schwarze Schaf ist der 'Stachel' im Fleisch der Normalität. Der Riss im Gefüge der Ebenmäßigkeit. Es ist das, was ein System wach und lebendig hält. Das was Entwicklung und Korrektur möglich macht. Die lebendige Erinnerung daran, dass alles auch ganz anders sein könnte, als in unserer Vorstellung, ist in Wahrheit ein großer Liebesdienst derer, die die feste Bahn verlassen. Es gehört viel Kraft dazu, alte Strukturen zu hinterfragen und die Krusten sterbender Traditionen aufzubrechen. Nicht oft erfüllen die Außenseiter einer Familie oder Gesellschaft diese Rolle freiwillig oder gar bewusst. Es ist eher so, dass sie traumessicher die dunklen und verdrängten Seiten einer Gemeinschaft repräsentieren und ihnen dadurch einen Platz einräumen im Gefüge vermeintlicher Perfektion. Die schwarzen Schafe füllen den leeren, ungeliebten Platz einer Familie oder Gesellschaft. Und geben damit Raum, das Verdrängte anzuerkennen und zu integrieren.

 

Man kann sagen, dass großer Mut dazu gehört, in einer Familie von Übereinkunft und Gleichartigkeit eine andere Haltung, ein anderes Gewand, einen anderen Ausdruck anzunehmen. Jeder Schritt in das Neue bedeutet, das Alte hinter sich zu lassen. In Bewegung zu bleiben. Weiterzugehen. Das ist so unwiderruflich, dass es bei uns Menschen nur zögerlich geschieht oder oft von großen Ängsten begleitet ist. Entwicklung bedeutet, auf das Gewesene aufzubauen. Es bedeutet aber auch, es loszulassen und weiterzugehen. Und letztlich heißt es vielleicht sogar, den Sippen-Instinkt zu überwinden. Um bereit zu sein für den nächsten Schritt.

 

Wenn wir mal in die Biografie großer Künstler, Forscher oder Entdecker schauen, so finden wir meist einen Geist, der die alte Ordnung hinterfragt. Gegen Widerstände, Mahnungen, ja ganze Weltbilder und Paradigmen haben sie angekämpft. Ungeachtet der geltenden Norm haben sie Neuland betreten, oft begleitet von schmerzlichen Lebensumständen, zerbrochenen Beziehungen und Armut. Was sie geleitet, geschützt und angezogen hat, muss etwas anderes gewesen sein, als die Vorstellung ihrer Zeit und Gesellschaft. Der Stern derer, die vermeintlich scheitern am Normalen, könnte der sein, der aus unserer Zukunft leuchtet.

Sicher sind nicht alle die scheitern Genies. Aber es sind Mutige, die der Wahrheit ein deutlicheres Gesicht geben. Sie beschönigen nichts und im besten Falle geben sie den entscheidenden Impuls zurück ins Leben. Und zwar vor allem für die, die es sich so nett eingerichtet hatten. In einem System, das drohte in Leblosigkeit zu erstarren.

 

Eine lebendige Harmonie lebt von Gegensätzen, das Vorhersehbare vom Überraschenden, das Geordnete vom Chaos. Das Gleichgewicht aller Dinge ist ein übergeordnetes Gesetz, kein vorgestelltes. Und ihm gehorcht alles Leben.

 

Als eine Frau, die im Wassermann - Geist geboren ist, mag ich immer schon schwarze Schafe, also die jeweils 'Anderen'. Sie sind für mich wie Leuchttürme, die es wagen alleine zu stehen und weithin sichtbar zu sein. Sie trotzen seichten Wellen und Sturm gleichermaßen. Das rettet so manchem das Leben.

 

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